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"Philosophische" Fragen zur Mathematik

   
 
 

 

"Ich habe etwas Unendliches gekauft und nach Hause geschafft." -
"Guter Gott! Wie hast du es denn tragen können?" -
"Ein Lineal mit einem unendlichen Krümmungsradius."


(Wittgenstein, 1976, Lectures Cambridge 1939)

 

 

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Was ist Mathematik?

buecher

 

  • Was macht ein Problem, ein Argument, eine Beweisidee "mathematisch"?
  • Ist eine Computersimulation von Naturprozessen angewandte oder reine Mathematik?
  • Betreiben Programmierende, die hunderte von Metern Code schreiben Mathematik?
  • Ist Schach nur deshalb nicht Mathematik, weil es im Mathematikstudium nicht gelehrt wird? - Definieren ev. lediglich unsere universitären Institutionen, was Mathematik ist und was nicht?
  • Ist Mathematik nach Wittgenstein einfach ein buntes Gemisch von Beweistechniken und Anwendungen, ein menschliches Phänomen mit immer neuen Ideen, Techniken, Beweis- und Untersuchungsideen unter gleichzeitigem Verlassen alter, unfruchtbar gewordener Wege?
  • Wie entstehen mathematische Ideen und Konzepte?
  • Warum kann Mathematik "angewendet" werden und worauf wird sie angewendet? Und: Ist diese Frage überhaupt sinnvoll?

Eine kurze Übersicht zu philosophischen Fragen bezüglich Mathematik.

Kurzübersicht von Prof. Giovanni Sommaruga auf philosophie.ch

Thomas Bedürftig, Roman Murawski: Philosophie der Mathematik, 3. Aufl., De  Gruyter, Berlin / Boston, 2015

 

Meinungen zu "Was ist Mathematik":

Henri Poincaré: ... dass Mathematik die Kunst ist, scheinbar verschiedenen Dingen denselben Namen zu geben. (Henri Poincaré, Wissenschaft und Methode, Teubner, Stuttgart, 1973, p.23).

Groupe Bourbaki: Mathematik ist Studium der Strukturen.
[Anm.: Der Begriff "Struktur" ist aber keineswegs klar definiert. Struktur erscheint nur handelnd, z.B. als Algorithmus.]

Ludwig Wittgenstein: Mathematik als ein buntes Gemisch von Beweistechniken

Ian Hackings "Lateinmodell": Die Mathematik entwickelt sich ähnlich wie sich z.B. aus dem Latein das Spanische oder das Italienische entwickelt haben: evolutionär, drift-mässig, zwar nicht im Sinn von "anything goes", aber mit unbekannter Zukunft. Wittgenstein: Der Fluss fliesst, verändert dadurch aber gleichzeitig auch sein Flussbett ein wenig und fliesst dann ein bisschen anders...

Ian Hacking: Mathematik ist eine menschliche Aktivität, gegründet in unserem Körper, Hand so gut wie Hirn, geformt durch eine menschliche Gemeinschaft in spezifischen Zeiten und an spezifischen Orten. (Ian Hacking: Why is there philosophy of mathematics at all?, Cambridge, 2014, p. 93.)

Paul Bernays: Mathematik als "theoretische Phänomenologie der Strukturen". (Paul Bernays: Abhandlungen zur Philosophie der Mathematik, Darmstadt, 1976.)

Richard Courant, Herbert Robbins: In jedem Fall ... kann nicht Philosophie, sondern nur das Studium der mathematischen Substanz die Antwort auf die Frage geben: Was ist Mathematik?

Nach Ferdinand Gonseth (z.B. in Ferdinand Gonseth, Logique et philosophie mathématiques, Hermann, Paris, 1998) erwerben wir bereits in frühester Kindheit Intuitionen und zahlreiche Referenzsysteme (z.B. Farbeinteilungen, Zeit- und Raumsysteme...). Später kommen Geräte und Experimente dazu (Zirkel, Lineal, ...).


Wie können wir uns z.B. die Entwicklung des Begriffs einer Geraden vorstellen?

  • Wir haben alltägliche Intuitionen (Strasse, Visierlinie, Schnüre, Spinnfäden, ...)
  • Wir "stilisieren", indem wir bei konkreten Dingen von Breite und Dicke (beinahe - aber vermutlich nicht vollständig) absehen und gewinnen dadurch Beziehungen zwischen "Geraden". Diese stilisierten Elemente sind gewissermassen "feiner" als ihre Naturvorbilder. (Hier wird bewusst von "Stilisierung" und nicht von "Idealisierung" gesprochen, um keinen Platonismus aufkommen zu lassen.)
 
 
 
 
 

Warum kann Mathematik "angewendet" werden und worauf überhaupt?


Denken wir zunächst von der Seite der Naturwissenschaften her: Ian Hacking (Einführung in die Philosophie der Naturwissenschaften, Reclam, Stuttgart, 1996) ersetzt das allzu einfache Modell naturwissenschaftlicher Erkenntnis "Beobachtung --- Theorie" durch ein dreistufiges Modell:

 

  • Spekulieren: Spielen mit Ideen, ein qualitatives Gefühl erhalten.
  • Kalkulieren: Eine Theorie artikulieren, mathematisieren, klug vereinfachen in Bezug auf die Phänomene und die aktuell zur Verfügung stehende Mathematik
  • Experimentieren: Die Phänomene und Effekte erzeugen.

 

Wie auch Lorraine Daston und Peter Galison in "Objektivität", Suhrkamp, 2007, ausführen, wird nicht einfach irgend eine "rohe Natur" (was wäre das überhaupt?) beobachtet; vielmehr wählen Expertinnen und Experten Wichtiges aus - analog der Herstellung von Atlanten. Die Art und die Stilisierung / Gestaltung der Auswahl unterlag und unterliegt, wie Daston / Galison anschaulich beschreiben historischer Wandlung.


Die Mathematik wird somit auf ein bereits stilisiertes Produkt angewendet, in welchem "Störeffekte" (z.B. Reibung, Luftwiderstand u.v.a) eliminiert sind; dazu braucht es vorgängig bereits eine "Theorie", die überhaupt festlegt, welches die störenden und welches die erwünschten Effekte sein sollen.


Die Stilisierung zeigt sich auch darin, dass die Begriffe, die man in physikalischen Theorien verwendet, zwar dem Alltag entliehen sind (Kraft, Energie, Potential, Impuls, Trägheit, ...), jedoch gegenüber diesen Alltagsbegriffen in der Bedeutung verengt, definitorisch präziser gefasst und somit der Mathematisierung zugänglich gemacht (eben "stilisiert") werden (Nancy Cartwrights Slogan: "Fitting facts to equations"). Zudem werden je nach "Tiefe" der physikalischen Betrachtung gewisse Begriffe verwendet oder nicht mehr verwendet (der Kraftbegriff verschwindet z.B. in der höheren Physik).

(Vgl. auch die Philosophie von Nancy Cartwright.)


Eine physikalische Theorie entsteht heutzutage als mathematisch designtes Modell (die Mathematik ist von Anfang an involviert). Der Weg von diesen Grosstheorien mit ihren Fundamentalgleichungen zur technisch anwendbaren "Wirklichkeit" ist anschliessend lange und kompliziert und verläuft über zahlreiche Approximationen und Korrekturen. Gemäss Nancy Cartwright ist es sogar so, dass gewisse Korrekturen das urprüngliche Fundamentalgesetz punkto Anwendbarkeit verbessern können. Die fundamentalen Theorien wären dann eher grosse Landkarten, die erklärende Zusammenhänge stiften; die Technik jedoch benötigt "geerdetere", phänomenologische Gesetze, gewissermassen problemorientierte und gegebenenfalls nachkorrigierte Spezialkarten.

Nach Nancy Cartwright arbeitet die theoretische Physik mit Simulacri. Es wird also nicht eine "Natur" "abgeguckt", sondern von Anfang an eine Stilisierung vollzogen.
Wer schon fasziniert einem Marionettentheater zugeschaut hat, wird die Cartwrightsche These gut verstehen. Auch die Marionette ist ein Simulacrum des Menschen und kann gerade deshalb gewisse Züge hervorragend vermitteln. So wäre die theoretische Physik eine Art faszinierendes "Marionettenspiel zumThema Natur"
.

 

Exkurs 1:
Für Nancy Cartwright sind die Fundamentalgesetze der Physik bezüglich der konkreten Phänomene falsch, haben jedoch eine erklärende Funktion.
Wie können "falsche Gesetze" erklärend wirken?
Das obige Gleichnis mit den Landkarten kann dies illustrieren: Eine Weltkarte ist stets falsch ; sie ist z.B. entweder winkel- oder flächentreu, nie aber beides zugleich. Zudem sind die "Ränder" der Kontinente extrem geglättet. Trotzdem ist eine solche Karte z.B. eine erklärende Illustration der These, dass die Kontinente sich aus einem Urkontinent losgelöst haben, indem sie zeigt, dass die Kontinentformen wie Puzzleteile recht gut zusammenpassen. "Falsch" muss nicht unbedingt negativ konnotiert sein; zudem ist die Weltkarte ja nur in Teilaspekten "falsch".

Gerade zu Erklärungszwecken werden häufig modellhaft stilisierte Karten und schematische Lexikonbilder hergestellt (und jede Stilisierung ist ja in Bezug auf gewisse Detailaspekte falsch).
Es liegt ja gerade im Wesen von Erklärungen, über Einzelfälle hinausgehende Aussagen zu machen, die Einzelfälle zu transzendieren. Dann sind aber Schematisierungen unvermeidlich, nicht nur in der Naturwissenschaft, sondern in den meisten Kommunikations-Situationen. (Auch bei gewöhnlichen Alltagserklärungen benützen wir ja vorwiegend Gattungs- und Oberbegriffe und überschreiten damit den konkreten Einzelfall. - Wie sieht etwa ein "allgemeines Laubblatt" aus? Ein im Lexikon zu Erklärungszwecken gezeichnetes Blatt ist im Vergleich zu jedem konkreten Einzelblatt immer falsch, weil schematisch gezeichnet.)

Verstehen heisst übersehen im doppelten Sinn des Worts: Übersehen im Sinn von "den Überblick haben" und im Sinn von "unwichtige Details bzw. Störfaktoren ignorieren, d.h. im optimalen Mass "ungenau zu sehen" - gerade so, wie es Landkarten tun.

Exkurs 2:
Für Ernst Cassirer bedeutet Kausalität "lediglich" die Möglichkeit, physikalische Phänomene mathematisch-formal beschreiben zu können. Es geht nicht mehr um eine konkrete Deutung von Ursache und Wirkung. Wiederum ist die Mathematisierung von Anfang an dabei; eigentlich "erklärt" der mathematische Formalismus die Abläufe (die mathematischen Implikationen, welche die Theorie liefert, genügen uns als "Kausalerklärung").

Eigentlich wird unser Erklärungsbedürfnis heute einfach durch das mathematisch-formale System der Grundgleichungen abgedeckt. Unsere Erklärungssysteme sind also von Anfang an mathematisch; das physikalische Erklärungsmodell ist eine Art Geometrie plus Statistik. Vgl auch Norman Sieroka, Philosophie der Physik, C.H.Beck, München 2014.

So wie Biografien eine Struktur erst durch Stilisierungen, Akzentuierungen und Weglassungen erhalten, so entsteht auch in der Naturwissenschaft eine strukturierte Betrachtung mit "Erklär-Charakter" erst durch Stilisierung. Das strukturierende Erklär-Gewebe wird durch die in der Theorie enthaltene Mathematik geliefert; diese schweisst die Theorie zu einem (ästhetischen) Gesamtkunstwerk zusammen, und wir akzeptieren dies, kulturell normiert, als Erklärung.

Denken wir nun von der andern Seite, derjenigen der Mathematik, her: Diese hat sich, wie z.B. Henri Poincaré (Wissenschaft und Hypothese, Leipzig,1904, z.B. p.51), Ferdinand Gonseth (s. oben) und Richard Courant (Richard Courant, Herbert Robbins, Was ist Mathematik? Springer, 5. Aufl. 2019) bemerken, ebenfalls aus unseren "Welterfahrungen" heraus entwickelt.

Die Anwendbarkeit der Mathematik auf die stilisierten Konzepte der Naturforschenden wird so plausibel: Sowohl Mathematik als auch die stilisierten Konzepte der Naturwissenschaft entstammen unserer "Welterfahrung".

Man kann sogar bezweifeln, dass (theoretische) Physik und Mathematik als Gestalt gebende Kulturtätigkeiten des Menschen scharf gegeneinander abgegrenzt werden können (vgl Exkurs 2 oben). Dann wäre es gar nicht möglich, von "Anwendung der Mathematik auf die Physik" sprechen (die entsprechende Frage würde sich gar nicht stellen), da beide Bereiche gestalteter Stilisierung entspringen und nicht säuberlich getrennt werden können.

Basiert auch hoch abstrakte Mathematik auf "Welterfahrung"? - Biografisch betrachtet muss man die Frage bejahen: Die hoch spezialisierten Personen, die sich mit solchen Theorien befassen, haben einen Werdegang. Sie haben in langer Schulung "Erfahrungen" gesammelt. Das ging in zunehmend sich steigernden Abstraktionsstufen vonstatten. Für mathematische Fachpersonen werden gewisse Stücke von Mathematik vollkommen "selbstverständliche Erfahrungstatsachen" (durchaus verbunden mit inneren "Vorstellungsbildern"), auf denen sie weiter aufbauen können.

 
 
 
 
 

Wittgenstein: Wie kommt es, dass ein Pfeil <= zeigt?

 

Wir lernen dies im Gebrauch. Die Zeigebewegung, die der Pfeil darstellt, kennt schon das kleine Kind.

Erneut konstatieren wir, dass der Pfeil sich am Alltäglichen orientiert. Wir gehen "der Nase nach"; Flugzeug und Vögel gleichen schematisiert dem Pfeilsymbol.

Übrigens: In welche Richtung bewegt sich der alte Mann links?
Lesen wir hierzu Wittgenstein (Philosophische Untersuchungen 139b):
"Ich sehe ein Bild: Es stellt einen alten Mann dar, der auf einen Stock gestützt einen steilen Weg aufwärts geht. - Und wie das? Konnte es nicht auch so aussehen, wenn er in dieser Stellung die Strasse hinunterrutschte? Ein Marsbewohner würde das Bild vielleicht so beschreiben. Ich brauche nicht zu erklären, warum wir es nicht so beschreiben."

 
 
 
 
  Was macht ein Problem, eine Vermutung, eine Tatsache, eine Beweisidee, ein Argument, eine Definition, eine Unterdisziplin "mathematisch"?  

Eine exakte Definition, was "mathematisch" sein soll, gibt es nicht. Vermutlich verhält es sich mit diesem Begriff ähnlich wie mit dem von Wittgenstein beschriebenen Begriff der "Zahl". Man ersetze im folgenden Zitat (Wittgenstein, Philosophische Untersuchungen, PU 67) "Zahl" durch "mathematisch":

"Warum nennen wir etwas "Zahl"? Nun etwa, weil es eine -direkte- Verwandtschaft mit manchem hat, was man bisher Zahl genannt hat; und dadurch (...) erhält es eine indirekte Verwandtschaft zu anderem, was wir auch so nennen. Und wir dehnen unseren Begriff (...) aus, wie wir beim Spinnen eines Fadens Faser an Faser drehen. Und die Stärke des Fadens liegt nicht darin, dass irgend eine Faser durch seine ganze Länge läuft, sondern darin, dass viele Fasern einander übergreifen.
Wenn aber einer sagen wollte: "Also ist allen diesen Gebilden etwas gemeinsam, - nämlich die Disjunktion aller dieser Gemeinsamkeiten" - so würde ich antworten: Hier spielst du nur mit einem Wort. Ebenso könnte man sagen: Es läuft ein Etwas durch den ganzen Faden, - nämlich das lückenlose Übergreifen dieser Fasern."

Und zum Begriff "Spiel" (PU 69, 71): "Wir kennen die Grenzen [dieses Begriffs] nicht, weil keine gezogen sind. (...) Aber ist ein verschwommener Begriff überhaupt ein Begriff? - Ist eine unscharfe Photografie überhaupt ein Bild eines Menschen? Ja, kann man ein unscharfes Bild immer mit Vorteil durch ein scharfes ersetzen? Ist das Unscharfe nicht oft gerade das, was wir brauchen?"

Zum Lob der Unschärfe siehe auch den Punkt unten: "Verläuft mathematisches Lernen linear?"

 
 
 
 
 

Wie begründet man, dass eine logische Begründung eine Begründung ist? Was macht Logik logisch?

 

Ein paar Notizen zur mathematischen Logik

Solomon Feferman zu Beweisen und Logik

 

Gemäss Imre Lakatos kann Logik Mathematik (zum Teil) erklären, aber nicht beweisen.
Die logische Theorie der Mathematik ist für ihn empiristisch (aus dem Gebrauch heraus) entstanden.
(Imre Lakatos, Philosophische Schriften, Bd. 2, Mathematik, empirische Wissenschaft und Erkenntnistheorie, Vieweg, Braunschweig, Wiesbaden 1982).
"Es gibt keine respektable formale Theorie, die nicht auf die eine oder andere Weise einen respektablen informalen Vorfahr hat."

 

Ein Link zu einem Überblick.

Vermutlich sollte man die gängige Auffassung, zuerst sei eine "Vernunft" am Werk, welche dann zu Logik und Mathematik führe, auf den Kopf stellen und sagen: Die mathematische Praxis und die entsprechenden Musterbeispiele erzeugen erst unsere Auffassung von "Vernunft". (Vgl. z.B. Michael Hampe: Die Lehren der Philosophie, Suhrkamp, Berlin 2014, 2.Auflage.)
Es ist also nicht so: Eine Vernunft ist da; als Folge entstehen Logik und Mathematik. Sondern: Logik und Mathematik bildeten sich als Kulturtechniken aus; als Folge entstand der gängige Vernunftbegriff.

Obiger Link führt zu einer kurzen Übersicht über verschiedene Arten von Logik. Man kann also durchaus von Logiken im Plural sprechen. Die Fragen in der linken Spalte sind gewissermassen falsch gestellt. Man entscheidet sich je nach Problem für eine passende Logik (Prädikatenlogik 1. oder 2. Stufe, Modallogik, Temporallogik, Quantenlogik(en), ...) und schliesst dann entsprechend dieser Wahl.
Zur Quantenlogik s. diesen Link.


Michael Tomasello beschreibt in "Eine Naturgeschichte des menschlichen Denkens", Suhrkamp 2014, wie bereits in frühesten Menschheitsepochen sich Vorformen logischen Denkens (Prä-Negationen, Wenn-dann-Muster) entwickelt haben, d.h. auch die Logik ist in die Evolutionsgeschichte eingebettet.

Interessante Nebenbemerkung: Jean Piaget verknüpft die Begriffe Logik und Moral. Moral bringt Logik in unsere Handlungen, macht sie kohärent. Umgekehrt ist Logik die eigentliche Moral des (mathematischen) Denkens: Man hält sich an die entsprechenden Regeln; Tricks und Überredungskünste haben in der Mathematik nichts zu suchen. Sowohl Moral wie auch Logik sind allerdings wandelbar (wir sprechen heute besser von Logiken im Plural).

 
 
 
 
  Können wir geordnete n-Tupel in der Mathematik überhaupt definieren, ohne auf geordnete n-Tupel von Zeichen (die in Formeln und Wörtern vorkommen) zurückzugreifen? Inwieweit ist eine solche Definition somit zirkulär?  

Wenn wir nicht bereits von Geburt an in Ordnungsstrukturen lebten (Bewegungsfolgen, Lautfolgen, Zeichenfolgen, ...), die uns mit der Um- und Mitwelt verbinden, könnten wir überhaupt keine mathematischen Ordnungsdefinitionen formulieren, denn dazu braucht es Wörter und Formeln, und das sind in Leserichtung angeordnete Zeichenfolgen.
Eine formale Mathematik aus dem Nichts aufzubauen, ist unmöglich.
Wir formalisieren stets Erlebtes (wobei "Erlebtes" das weite Spektrum von elementar Erlebtem bis hin zu hoch spezialisierten und durch lange Schulung "erlebten" Theorien reichen kann).
Zirkulär ist eine Definition geordneter n-Tupel innerhalb des formalen Systems jedoch nicht. Die "Voraussetzung", dass man bereits aus der Lebenserfahrung heraus weiss, was geordnete n-Tupel ("Wörter") sind, ist ja nicht Teil des Formalismus, sondern entstammt der Ebene der lebenspraktischen Intuition. Intuitionen führen zum Aufstellen der Axiome - es sind "Leitsterne" dazu.

 
 
 
 
 

Sind "Verstehen einer Regel" und "Anwenden einer Regel" dasselbe?

  • Wie kann eine Regel ihre richtige Anwendung "befehlen"?
  • Kann sie es überhaupt oder ist diese Formulierung eine sprachliche Begriffsverwirrung? ("Wissen, dass..." contra "Wissen, warum...")

Unterschied formales Verständnis / inhaltliches Verständnis:
Es gibt das Ratespiel "Bärenclub". Man befindet sich beim Nordpol und den Eisbären, die an Eislöchern fischen. Man würfelt mit z.B. drei Würfeln (s. Bild links). Die Person, die das Spiel leitet, nennt dann jeweils die Anzahl Löcher, Bären, Vögel und Fische. Bild links: 2 Löcher, 4 Bären, 6 Vögel, 9 Fische.
Wer das System erraten hat, nennt ebenfalls diese Daten. Mit der Zeit kommen immer mehr Mitspielende hinter die Regel, nach welcher sich diese Daten generieren.
Auflösung Spalte rechts.

 

Nach Wittgenstein erschafft sich die Regel im Gebrauch. Man beherrscht sie, wenn man sie in hinreichend vielen Fällen in Übereinstimmung mit seiner "Community" anwendet.
Trotzdem gibt es den Unterschied zwischen "Verstehen" (aus einer gewissen Einsicht handeln) und "nur anwenden können" (auf blinden Befehl hin bzw. rein formal handeln).
Die Einsicht entsteht durch Einbettung der Regel in einen grösseren Zusammenhang (man kann sie z.B. herleiten).

 

Auflösung des Bären-Spiels:
Der angegebene Link führt zur Lösung für die Löcher und die Bären. Die Vögel sind dann nicht schwierig zu erraten.
Fische: Hier zeigt sich der Unterschied "Verstehen einer Regel" (A) und "rein formales, inhaltsloses Anwenden einer Regel" (B).
Zu A: Die Fische befinden sich unten. Schaltet's jetzt? - Dies wäre ein inhaltliches Verständnis: Augenzahlen unten.
Zu B: Vielleicht merkt man mit der Zeit: Anzahl Fische = 21 minus Anzahl Augen oben. Dies wäre ein rein formales Verständnis ohne inhaltlichen Bezug.
Beide Varianten, A und B führen zum richtigen Resultat, aber A geht im Verständnis tiefer.

 
 
 
 
  "In mathematics you don't understand things, you just get used to them."

Inwiefern trifft dieses John von Neumann zugeschriebene Zitat zu?
 

Gewiss nicht so, dass man ohne irgend ein Verständnis rein mechanisch operierte (siehe oben: Verstehen einer Regel und Anwenden einer Regel). Jedoch hilft Gewöhnung, grössere Bogen zu spannen. Nicht jedes Detail muss hergeleitet werden. Es entstehen mit der Zeit "Gewohnheitswerkzeuge", die man wie selbstverständlich anwendet. Dadurch entstehen neue Theorien und Zusammenhänge, die später ev. wieder zu neuen Gewohnheitswerkzeugen werden.

Zudem: Hat man etwas erst halb verstanden, kann eine gewisse Gewöhnung an dieses Thema helfen, später zu einem besseren Verständnis zu gelangen. Man verliert die Angst, gewöhnt sich an gewisse Definitionen und Begriffe, usw.

 
 
 
 
 

Könnten Androiden Beweise führen?

  • Woher wüsste ein Androide, dass eine formale Ableitung gerade jetzt fertig ist und genau an dieser Stelle mit "Quod erat demonstrandum" beendet und als mathematisches Theorem formuliert werden soll?
  • Hat nicht jeder Beweis einen Anfang, einen Aufbau und ein Ende (die Rhetorik wäre die formale Schlusskette)?
  • Den Beweis als Ganzes überblicken contra den Beweis nur Schritt für Schritt absolvieren können: Androiden könnten nur Letzteres.
  • Ein Android kennt keine Verben: Er "impliziert" nicht.
 

(Vgl. Barry Mazur: Circles disturbed, Princeton, 2012)

Mathematik auf ein rein formales "Androiden-Spiel" zu reduzieren, entspricht keineswegs der Praxis. Es braucht Gliederung (Sätze, Theoreme) und kluge Symbole als Werkzeuge für das weitere Forschen. Und jede mathematisch tätige Person hat inhaltliche Assoziationen (von unterschiedlichem Abstraktheitsgrad, die auch ein gewisses ästhetisches Bedürfnis befriedigen).
Zudem: Über konkrete Modelle zu einem Axiomensystem kann man etwa die Unabhängigkeit eines Axioms von den übrigen zeigen (z.B. des Parallelenaxioms in der euklidschen Geometrie).

 
 
 
 
 

Ist der Begriff des "mathematischen Beweises" klar?

  • Die mathematische Praxis kennt eine Vielfalt von "Begründungen": vollständige Induktion, Widerspruchsbeweise, Umwandeln von algebraischen Problemen in geometrische und umgekehrt, Anpassen oder Schärfen der Voraussetzungen im Laufe einer Beweisführung, um diese zu retten (nicht monotones Schliessen), Beweise mithilfe von Bildern, Graphen, Pfeilen führen, riesige Computerbeweise erstellen, usw. Der Beweis für die Klassifikation endlicher einfacher Gruppen umfasst 10'000 Seiten; allein eine mit der Zeit entdeckte Beweislücke umfasst 1200 Seiten. Sind die Beweis-Schiedsrichter zuverlässig? Ist wirklich jede Lücke entdeckt worden? Vgl. hierzu das pdf von Solomon Feferman (Link unten).
  • Vor jeglicher Beweistheorie existierte somit bereits eine breite mathematische Beweis-Praxis ohne formalen Beweisbegriff. Die Beweistheorie(n) entstand(en) nachträglich unter Berücksichtigung vieler bisheriger Praktiken. Auch die Wahl einer adäquaten Logik soll bisherige Praktiken weiter ermöglichen. Sogenannte Grundlagen entstehen also immer nachträglich durch Analyse von Praktiken.

Gedanken von Solomon Feferman zu Beweisen: hier.

 

Die mathematische Beweistheorie schärft den Beweisbegriff.

Trotz der Vielfalt an Beweis-Überlegungen, an "schönen" und "eleganten" Beweisen und genialen Beweis-Ideen in der Praxis wird in der Mathematik ein geschärfterer Beweisbegriff benötigt. Damit schafft sich "die Mathematik" gewissermassen Klarheit über sich selber.

Das eigentlich Kreative an der mathematischen Arbeit sind jedoch die genialen Beweis-Ideen und der Einsatz komplexerer mathematischer "Werkzeuge".
Ob ein solcher Beweis dann gültig ist, prüft die Gemeinschaft der Forschenden. Es muss sichergestellt sein, dass nicht versteckte Voraussetzungen eingeflossen sind. So kommt etwa das Auswahlaxiom (oder äquivalent: der Wohlordnungssatz bzw. das Lemma von Zorn) für Anfänger oft etwas versteckt zum Einsatz.

Noch ein paar von Wittgenstein beeinflusste Gedanken zu Beweisen:

  • (Semantische) Beweise sind immer praktische Menschenbeweise mit Anfang, Aufbau und Schluss - wie Aufsätze. Rein formalistische "Beweise" sind keine Beweise, sondern Ableitungen.
  • Beweise verleihen den Sätzen erst ihren Sinn. (Der Satz von Pythagoras ist hohles Gerede: "AquadratplusBquadratgleichCquadrat", wenn ich keinen Beweis dazu kenne.)
  • In übersichtlichen Beweisen liegt das Relevante sichtbar vor uns; nichts geschieht "im Untergrund".
  • Es gibt eine Einheit, eine "Gesamtgestalt" Satz / Beweis, ähnlich einer geometrischen Konstruktion mit allen Hilfslinien. Der Beweis zeigt nicht nur, dass etwas so ist, sondern auch wie etwas so ist.
 
 
 
 
 

Wie wichtig ist das Generieren "guter" mathematischer Symbole?

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 


Elementare Beispiele:

- Dezimalsystem mit der indischen Null

- das Symbol "n tief k" für Binomialkoeffizienten

- die Potenzschreibweise

- ...

 

Indem man z.B. a...a durch an ersetzt, wird Induktion über n möglich. Ohne Potenzschreibweise wäre dies ausgeschlossen. Zudem können mittels Potenzschreibweise die verschiedensten Funktionen einheitlich als Potenzfunktionen zusammengefasst werden: neue Übersichtlichkeit.

Ein weiteres Beispiel anhand einer Aufgabe:
a) In wie viele Teile teilen Punkte eine Gerade?
b) In wie viele Teile teilen Geraden eine Ebene?
c) In wie viele Teile teilen Ebenen den Raum?
d) In wie viele Teile teilen 3-dimensionale Räume einen 4-dimensionalen Hyperraum?

Man findet zunächst folgende Antworten (siehe auch hier):
a) n + 1
b) (n2 + n + 2) / 2
c) (n3 + 5n + 6) / 6

Das sieht sehr unzusammenhängend aus. Mithilfe der Symbolik der Binomialkoeffizienten erscheint plötzlich eine glasklare Struktur:

nr21

Diese Struktur ist nun auf offensichtliche Weise auf höhere Dimensionen verallgemeinerungsfähig (Teilaufgabe d oben). Es zeigt sich hier, wie auseinander liegende Gebiete der Mathematik dank guter Symbolik einander befruchten können und wie wichtig gut gewählte Symbole überhaupt sind; sie dienen als kraftvolle Werkzeuge für weiteres Arbeiten.

In Abwandlung des Goethe-Zitats: "Bedeutende Fördernis durch ein einziges geistreiches Wort" könnte man sagen: "Bedeutende Fördernis durch geistreiche mathematische Symbole".

 
 
 
 
 

Fermat: Jede Primzahl der Form 4n + 1 ist Summe von genau zwei Quadratzahlen. Beweis durch Euler.

Wie kann „Summe zweier Quadrate“ begrifflich enthalten sein in „Primzahl der Form 4n + 1?“

  Der Kalkül schafft oft überraschende Zusammenhänge.  
 
 
 
  Warum entsteht das Gefühl, in der Mathematik Dinge entdecken zu können?   Das Axiomensystem wird zwar "gemacht", "hergestellt", erschaffen. Dann aber ist man an die Folgerungen daraus gebunden, und dies ergibt oft überraschende Konsequenzen, die man dann eben "entdeckt". Diese Entdeckerfreude ist wohl die wichtigste Triebfeder für mathematisch Tätige.  
 
 
 
  Sind "Zahl" und "axiomatisierte Zahl" dasselbe?  

Nein. Es gibt verschiedene Axiomatisierungen etwa der Mengenlehre, die zu verschiedenen Zahlbegriffen führen. Man hat in der Axiomatisierung stets eine bestimmte Version von natürlichen Zahlen.

Zum "Problem" der reellen Zahlen: Das anschauliche und das arithmetische Kontinuum sind nicht dasselbe. Grundlagenfragen, die sich aus der Arithmetisierung der Geometrie ergeben, bleiben bis heute kontrovers.

(Im Unterricht werden die reellen Zahlen oft am Beispiel der irrationalen Wurzel aus 2 eingeführt, und es wird suggeriert, dass diese neue Sorte von Zahlen - die irrationalen Zahlen - einfach "schon da" und nur noch zu entdecken waren. Damit werden viele spannende Probleme ignoriert. Vgl. Bedürftig / Murawski: Philosophie der Mathematik, De Gruyter 2015.)
Siehe auch hier: Kleiner Abriss der "Geschichte" der reellen Zahlen.

 
 
 
 
  Fördern Unschärfen und Übertretungen bisher tradierter Formalismen den mathematischen Fortschritt?  

Unbedingt. Die genialen Gedanken Cauchys waren oft formal sehr unzulänglich abgefasst und missachteten häufig streng formale Kriterien. Trotzdem legten sie die Grundlage für die Entwicklung der Analysis. Reichhaltige Theorien durchleben oft ein langes Stadium der Vagheit und der formalen Unzulänglichkeit. Sie wären weniger reichhaltig, wenn keine formalen "Übertretungen" stattgefunden hätten.

Bombelli rechnete mit imaginären Zahlen, ohne dass diese in der damaligen Mathematik formal-sicher verankert waren.

Leibniz operierte mit unendlich kleinen Grössen, die formal nicht klar definiert waren - mit Erfolg! Heute kann man solche Grössen in der Non-Standard-Analysis formal korrekt einführen.

 
 
 
 
  Timothy Gowers: Does mathematics need a philosophy?   Gowers: Selbst wenn morgen völlig neue philosophische Ansichten über Mathematik da wären, beeinflusste dies die Aktivitäten der Mathematiker nicht! Ob jemand z.B. einem mathematischen "Platonismus" anhängt oder nicht, spielt für die praktische mathematische Tätigkeit überhaupt keine Rolle. Oder wie Ludwig Wittgenstein es ausdrückt:
Ein Rad, das sich dreht und nichts dreht sich mit ihm mit, ist nicht Teil des Mechanismus.
Lassen wir also das platonische Rad sich drehen - als ein abgekoppeltes, frei bewegliches Windrad!
 
 
 
 
  Was bedeutet „mathematische Existenz“?  

Ian Hacking: Der mathematischen Sprache wohnt keine ontologische Verpflichtung inne. Existenz ist relativ zu einem Konzept, einer Theorie.
Das Existenzsymbol verpflichtet nicht zu einer platonischen Ontologie.
Es gibt „interne Existenz“, die braucht aber nicht ontologisch-extern zu werden. Wenn ich eine Telefonnummer einstelle und höre: „The number that you have called does not exist“, ist das interne Nichtexistenz.

Ludwig Wittgenstein: Mathematische Behauptungen sind nicht Aussagen über mathematische Objekte, die zu erkunden wären. Man soll nach dem Gebrauch fragen. Die Bedeutungen ergeben sich intern, im Gebrauchsnetz des jeweiligen Konzepts.

Noam Chomsky: Es ist möglich, dass auch die natürliche Sprache nur Syntax und Pragmatik hat und die Semantik (= Bedeutungslehre) nur in einer Kommunikationssituation vorkommt: Man weiss ungefähr, was die andere Person meint; man ahnt ungefähr, was die andere Person von meiner Äusserung versteht. Oder pointierter gesagt: Semantik entwickelt sich pragmatisch und ist nicht von vornherein gegeben.

Vermutlich sollten wir ganz darauf verzichten, den Begriff Semantik auf einzelne Sprachelemente anzuwenden. Vielleicht kann man die Begriffe Pragmatik und Semantik ja nur zusammen, als nicht separable Einheit denken. (Die Einheit von Pragmatik und Semantik zeigt sich bereits in frühesten Menschheitsstadien in Form kommunikativer Gesten; vgl. Michael Tomasello: Eine Naturgeschichte des menschlichen Denkens, Suhrkamp 2014.)

 
 
 
 
  Wäre Mathematik ohne das „usw.“ möglich?  

Vgl. Ludwig Wittgenstein, Philosophische Untersuchungen 208):
(...) Es ist zu unterscheiden: das „u.s.w.“, das eine Abkürzung der Schreibweise ist von demjenigen, welches dies nicht ist. Das „u.s.w. ad inf.“ ist keine Abkürzung der Schreibweise. Dass wir nicht alle Stellen von π anschreiben können, ist nicht eine menschliche Unzulänglichkeit, wie Mathematiker manchmal glauben. (...)

Das "usw." im Sinn von "ad infinitum" ist für die Mathematik enorm wichtig. In 0, 1, 2, 3, ... drücken die "..." aus, dass jedes Folgeglied ein Nachfolge-Element besitzt (potentielle Unendlichkeit). (Es gibt beim Zählen keine "natürliche Endhaltestelle".)
In {0, 1, 2, 3, ...} drücken die Mengenklammern und die "..." gemeinsam das "unendliche Gebilde der natürlichen Zahlen" aus (aktuale Unendlichkeit).

Das "usw.", das eine gegebene Regel, z.B. "plus 1", weiterführt, ist noch gut zu verstehen. Beim "usw.", das die Ziffern von √2 weiterführen soll: 1.4142136..., wird die Regel durch einen Algorithmus gebildet, der die Ziffernfolge sukzessive erzeugt
(siehe. z.B. hier; Nr. 3: Babylonisches Verfahren).
Wie steht es aber mit dem "usw." bei reellen Zahlen, die nicht durch konstruktive Prozesse gewonnen wurden? (Es gibt nur abzählbar viele berechenbare Zahlen, jedoch überabzählbar viele reelle Zahlen; die berechenbaren Zahlen bilden einen Teilkörper des Körpers der reellen Zahlen.) (Über nicht berechenbare Zahlen s. hier.)

 
 
 
 
  Ist 0.999... gleich 1 oder kleiner als 1?  

a) Im Rahmen der üblichen Grenzwert-Mathematik: 0.999... = 1

b) Im Rahmen der Non-standard-Analysis: 0.999... < 1 bzw. 0.999... ≈ 1.
 
 
 
 
 

A   A


Wie viele verschiedene rote Buchstaben sind hier zu sehen?

 

Werden die Buchstaben wie Spielsteine betrachtet (etwa aus einem Scrabble-Spiel), lautet die Antwort wohl "2". Werden die Buchstaben als Variable angesehen (etwa in einer mathematischen Abhandlung), wird man mit "1" antworten ("Wir führen die (Singular!) Variable A ein...").

Die banale Frage weist auf Voraussetzungen hin, die wir Menschen vor jeder mathematischen Tätigkeit mitbringen - man denke an die Entwicklung des Kleinkindes. Beispiele (ohne Anspruch auf Vollständigkeit):

  • Wiedererkennen "gleicher" Personen oder Gegenstände (A = A); Wiedererkennen gleicher Buchstaben (selbst wenn sie, etwa infolge Handschrift, kleine Variationen aufweisen), d.h. eine Art Sensorium für euklidische "Deckungsgleichheit"
  • Unterscheiden verschiedener Personen oder Gegenstände (A ≠ B)
  • Erleben eines Vorher - Nachher (zeitliche Ordnungen); beim Lesen auch: Einhalten einer Leserichtung
  • Benennen von realen und abgebildeten Dingen, von Situationen und Abläufen (einfachen und komplexen)
  • Erleben von Prozessen mit "offenem Ende", d.h. mit "usw." (beim Zählen etwa gibt es keinen natürlichen Punkt, an dem man aufhören könnte: Grundlage der potentiellen Unendlichkeit)
  • Die Fähigkeit und das Bestreben Angefangenes, Nicht-Fertiges in der Fantasie fertig zu denken: Grundlage der aktualen Unendlichkeit (Doppeldeutigkeit des Wörtchens "alle": "Alle natürlichen Zahlen" kann bedeuten: "Jede natürliche Zahl, die man antrifft", aber auch: "Die 'Gesamtheit' der natürlichen Zahlen")
  • Elementare Relationen zwischen Dingen (auf, unter, neben, in, vor, hinter...)
  • Als handelndes und erleidendes Wesen: Erleben von Konsequenzen ("wenn ... dann...")
  • Sich bereits als Kleinkind mitteilen, etwa durch Zeigen, eine bestimmte Richtung einschlagen wollen...
  • ...

Solche "Fundamente" - in ihrer ganzen Vagheit - sind uns vor jeglichem bewussten Theoretisieren gegeben. Es sind anthropologische "Konstanten"; es ist jedoch nicht nötig, deswegen gleich ein "platonisches Ideenreich" oder kantsche Anschauungsformen zu postulieren. Unsere ersten "Bedeutungen" entstehen aus solchen allgemein menschlichen Routinen und Fähigkeiten.

Pointierter: Jede Theorie - sei sie auch hoch komplex und nicht-euklidisch - setzt voraus, dass man sie lesen kann, und dies wiederum setzt voraus, dass man Buchstaben in einem euklidischen Raum in einer zeitlichen Abfolge erkennen und zu Wörtern und Sätzen zusammenfügen kann. Jede Theorie wurzelt somit in einem "mittleren Bereich" von Alltagsroutinen.

Es entsteht deshalb in gewisser Weise das Paradox, dass bereits vor der formalen Konstruktion von Ordnungsstrukturen - etwa bei der formalen Definition eines geordneten Paares (a , b) - beim Niederschreiben und Lesen solche Ordnungen vorausgesetzt werden: Ohne Alphabetisierung, d.h. ohne dass man bereits "weiss", was geordnete Buchstaben (d.h. Formeln und Wörter) sind, kann man eine geordnete Folge von Buchstaben nicht definieren... Trotzdem ist natürlich innerhalb der Mathematik die formale Definition eines geordneten Paares notwendig - auch wenn man aus der Lebenspraxis bereits weiss, was ein geordnetes Paar ist.

Mathematik ohne solch grundlegende "Lebenserfahrungen" wäre nicht möglich. (Das zeigt sich u.a. auch darin, dass mathematische Begriffe voll von aussermathematischen Metaphern sind.)

 
 
 
 
  Hat Mathematik eine sichere Grundlage?  

Die gegenwärtige Grundlage ist die Mengenlehre. Aber welche? Die erste Mengenlehre von Cantor enthielt Widersprüche (Antinomien). Die übliche Zermelo-Fraenkel-Axiomatisierung zusammen mit dem Auswahlaxiom befriedigt auch noch nicht vollständig; das Auswahlaxiom zeitigt einige skurrile Nebenwirkungen, ohne Auswahlaxiom liessen sich jedoch etliche wichtige mathematische Sätze nicht beweisen, also nimmt man es hinzu, weil es mithilft zu beweisen, was man unbedingt beweisen möchte.

Gegenwärtig werden weitere Axiome ausprobiert, die den Zermelo-Fraenkel-Axiomen zugefügt werden könnten.

Es gibt heute verschiedene Axiomensysteme für Mengenlehren (Plural!). Gibt es deshalb auch nicht die Mathematik, sondern mögliche Mathematiken?

Das Entwickeln verschiedener Grundlagen-Axiomensysteme scheint stets im Hinblick auf gute Anwendbarkeit contra nicht erwünschte Nebenwirkungen zu geschehen. Die Sache erinnert ein wenig ans Entwickeln von Medikamenten. (Gewisse Nebenwirkungen des Auswahlaxioms findet man sogar noch amüsant.)
Ist also die sogenannte "Grundlage" einfach eine Entscheidung für eine bestimmte Axiomatisierung, die auch anders möglich wäre? Wird später vielleicht gar eine mengentheoretische Grundlage durch etwas völlig Anderes ersetzt (gegenwärtig ist auch die Kategorientheorie eine Anwärterin)? Es scheint so, als ob man die Grundlagen (eine bestimmte Mengenlehre? Auswahlaxiom ja oder nein?, usw.) im Hinblick auf gute Anwendbarkeit im mathematischen Tun wählt; im Hinblick auf eine "gute" Praxis ist man also durchaus bereit, an den Grundlagen zu "schrauben": Man setzt die Grundlagen, auf denen man aufbauen will. (Wiederholt sich so auf höherer Ebene das, was mit der Geometrie passiert ist?)
Es ist durchaus möglich, dass sich dereinst mathematische Inhalte zeigen werden (ähnlich der Kategorientheorie), für welche die Mengenlehre nicht die geeignetste Grundlage ist - dann wird man eher an diesen Grundlagen schrauben und sie modifizieren als auf neue interessante Dinge zu verzichten.

 
 
 
 
  Verläuft mathematisches Lernen linear?  

Kaum durchgehend. Es gelten wohl, wie für jedes Lernen, die folgenden Worte von W.V.Quine ("Wort und Gegenstand"; 4.26 Vagheit):

*Es dient einem guten Zweck, die Vagheit unangetastet zu lassen. Vagheit und Genauigkeit schliessen einander keineswegs aus (...) Ein Maler mit seiner beschränkten Palette kann durch Verdünnung und Verbindung seiner Farben zu einer genaueren Wiedergabe gelangen als ein Mosaikleger mit seiner begrenzten Vielfalt von Steinchen, und das geschickte Übereinanderschichten vager Dinge hat gegenüber dem Zusammensetzen präziser Fachausdrücke ähnliche Vorteile. Vagheit ist auch ein Mittel, mit der Linearität der diskursiven Rede fertig zu werden. Jemand, der etwas erläutern will, stellt etwa fest, dass eine Sache A eine notwendige Vorbereitung für das Verständnis von B ist, dass man A selbst aber nicht richtig und im einzelnen erläutern kann, ohne andererseits bestimmte Ausnahmen und Unterscheidungen zu erwähnen, die ein vorhergehendes Verständnis von B erfordern. Hier kommt ihm die Vagheit rettend zu Hilfe. Er spricht zunächst vage von A, schreitet fort zu B und nimmt anschliessend wieder A auf, ohne von seinem Leser jemals verlangen zu müssen, mit der vorläufigen Feststellung von A etwas durch und durch Falsches zu lernen und dann wieder zu vergessen."
(W.V. Quine, "Wort und Gegenstand", Reclam, Stuttgart, 1980, p. 226)

 

Diese Gedanken sollten im Mathematik-Unterricht beherzigt werden. Eine gewisse Vagheit zulassen - weiter schreiten - später auf das erst etwas vage Verstandene zurückkommen und es neu beleuchten, also gut geplante Repetitionen einbauen, die jedoch nicht einfach Repetitionen sind, sondern gleichzeitig neues Licht auf die alte Sache werfen. In diesem Hin und Her gewinnt man dann immer grössere Übersicht und Beweglichkeit.
Arbeiten wir also mehr malend als linear Mosaik legend, nutzen wir die Vorteile der Vagheit und des Hin-und-Her-Gehens.
Übrigens benötigt jede Kommunikation diese Vagheit: Wir wissen nur ungefähr, was die andere Person mit ihren Worten meint, da die mit den Worten verbundenen Hintergrund-Assoziationen leicht differieren können. Im Hin und Her des Gesprächs wird dann erst vieles verständlicher. Zudem: Jede noch so exakte Theorie kristallisierte sich aus zunächst noch vagen Vor-Gedanken heraus. Diese sollten auch etwas in die Didaktik einfliessen.

Link zu einer Quine-Studie (Dieter Köhler, 1999).