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  strecke_quadrat

Cantors erstaunliche Entdeckung

1877 entdeckte Georg Cantor zu seinem eigenen Erstaunen, dass es möglich ist, die Punkte der Einheitsstrecke Punkt für Punkt in umkehrbar eindeutiger Weise den Punkten eines Einheitsquadrats zuzuordnen. Jeder Punkt der Strecke erhält genau einen Partnerpunkt im Quadrat und umgekehrt (s. Bild links).

Dies hätte man nie für möglich gehalten, ist die Strecke doch ein eindimensionales und das Quadrat ein zweidimensionales Gebilde. Für alle Mathematiker war bislang unausgesprochen "klar" gewesen, dass zwischen verschiedenen Dimensionen eine solche Eins-zu-Eins-Zuordnung nicht möglich sei (und folglich war auch nie jemand auf die Idee gekommen, eine solche zu suchen). Cantor selber sagte dazu: "Ich sehe es, aber ich kann es nicht glauben."

In Zusammenarbeit mit den Mathematikern Dedekind und König gelang es jedoch, eine solche Zuordnung formal korrekt zu konstruieren

 

 
 

 
 

Cantors ursprüngliche Beweisidee: das Reissverschluss-Verfahren

1. Gegeben ein Punkt im Einheitsquadrat. Beispiel: (0.253876... | 0.824908...)
Gesucht ist ein Punkt auf der Einheitsstrecke. Cantor zieht die Nachkommastellen der beiden Koordinaten reissverschlussartig zusammen. Der neue Punkt lautet:
0.285234897068...

2. Damit die Zuordnung auch in der umgekehrten Richtung funktioniert, muss dieser Reissverschluss wieder "geöffnet" werden können. Wie das zu tun ist, ist sofort klar:
Man färbt die Zahl wie oben dargestellt zweifarbig ein (grün-rot-grün-rot...) und trennt die Farben. Man erhält wieder die Zahlen von Punkt 1 zurück.

3. So weit, so einfach. Die Sache hat nur einen Haken (den Dedekind entdeckte und Cantor auf einer Postkarte mitteilte): Die Dezimaldarstellung von Zahlen ist nicht eindeutig. So kann etwa 0.5 auch als 0.499999... dargestellt werden (Periode fett gedruckt). Dies führt nun dazu, dass beim Öffnen des Reissverschlusses der Fall eintreten kann, dass zwei verschiedene Zahlen auf der Einheitsstrecke dem gleichen Partnerpunkt im Quadrat zugeordnet werden.
Dazu ein Beispiel:


Sei a = 0.5101010... (Periode fett gedruckt).
Sei b = 0.4191919... (Periode fett gedruckt).


Man prüft schnell nach, dass das Öffnen des Reissverschlusses im ersten Fall auf den Punkt (0.500... | 0.111...) und im zweiten Fall auf den Punkt (0.499... | 0.111), also zweimal auf den gleichen Punkt im Quadrat führt. Verantwortlich dafür ist die erwähnte Uneindeutigkeit der Dezimalnotation.

Cantor gelang darauf in einem zweiten Anlauf ein korrekter Beweis mittels Kettenbrüchen. Dem Mathematiker Julius König (1849 - 1913) gelang durch einen kleinen Trick eine Rettung von Cantors ursprünglichem Beweis (s. Spalte rechts).

Das verbesserte Reissverschluss-Verfahren von Julius König

Eine leichte Modifikation des Reissverschlusses verhilft der ursprünglichen Idee zum Erfolg. Julius König trennt beim Auftreten von Nullen die Zahlen wie folgt auf:

Beispiel: 0.1001307100014502...

Erkennen Sie die Regel? König bildet beim Auftreten von Nullen die Gruppierung so, dass er die aufeinanderfolgenden Nullen plus die erste darauffolgende Ziffer ungleich null zu einer einzigen Gruppe zusammenfasst.
Obige Zahl zerlegt sich dann die beiden Koordinaten (0.131402... | 0.0010700015...)

Testen wir mit diesem modifizierten Reissverschluss das Beispiel links:

a = 0.510101... Hier entsteht (0.50101... | 0.10101...)
b = 0.41919...   Hier entsteht (0.499... | 0.111... ) .

Nun entstehen aus verschiedenen Zahlen a und b auf der Einheitsstrecke auch verschiedene Punkte im Einheitsquadrat.

Wir vereinbaren noch, dass wir bei abbrechenden Dezimalzahlen die Form mit unendlich vielen Kommastellen wählen; im Beispiel der Figur oben links wählen wir also statt
(0.5 | 0.111...) die Form (0.499... | 0.111...). Der diesem Punkt zugeordnete Partnerpunkt auf der Einheitsstrecke ist 0.41919... = 83 / 198.

Damit haben wir eine ein-eindeutige Zuordnung der Punkte einer Strecke zu den Punkten eines Quadrats (und umgekehrt).

 

 

 

 
 

 
 

Bemerkungen zu dieser Zuordnung

  • Dass eine ein-eindeutige Punkt-zu-Punkt-Zuordnung, eine sogenannte Bijektion, zwischen einem eindimensionalen und einem zweidimensionalen Gebilde möglich ist, erstaunte praktisch alle Fachleute. Dedekind wies jedoch darauf hin, dass diese Zuordnungsfunktion nicht stetig sei (eng benachbarte Punkte auf der Strecke werden nicht unbedingt auf eng benachbarte Punkte im Quadrat abgebildet). Man versuchte zu beweisen, dass jede Bijektion zwischen einer Strecke und einer Fläche unstetig sein müsse. 1911 gelang dem Mathematiker L.Brouwer (1881 - 1966) der Beweis dafür: Es gibt keine stetige Bijektion zwischen Kontinua verschiedener Dimension. Damit stellt die Dimension doch wieder eine natürliche Grenze zwischen geometrischen Räumen dar.

    Allerdings gelang dem Mathematiker G.Peano (1858 - 1932) die Konstruktion einer stetigen Abbildung der Einheitsstrecke ins Einheitsquadrat. Allerdings haben hier verschiedene Punkte auf der Einheitsstrecke denselben Bildpunkt im Quadrat, jedoch wird jeder Punkt des Quadrats als Bild erreicht (die Funktion ist surjektiv).
    Details zur Peanokurve hier.

    Allerdings kann sollte man sich die Peano-Kurve (die Grenzwert-Kurve) nicht mehr als "Linie in einem Strich" vorstellen; die Entstehung sollte man sich eher als zunehmend feiner gepixeltes Bild vorstellen.
    Buchhinweis: Oliver Deiser, Reelle Zahlen, Springer 2008.

  • Die Überlegungen mit der Einheitsstrecke und dem Einheitsquadrat können leicht auf die ganze reelle Gerade und die ganze reelle Ebene verallgemeinert werden.

sierpinski02

Die Sierpinski-Kurve ist wie die Peano-Kurve "raumfüllend".