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Die Linie - ein mathematisch-kultureller Rundgang

Philosophisches

   
 
 

Ernst Cassirer über Linien
Ernst Cassirer über ideale Elemente in der Mathematik
Die Linie als Idealgebilde (Ferdinand Gonseth u.a.)

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Ernst Cassirer

"Wir können ein optisches Gebilde, wie etwa einen einfachen Linienzug, nach seinem reinen Ausdruckssinn nehmen. Indem wir uns in die zeichnerische Gestaltung versenken und sie für uns aufbauen, spricht uns in ihr zugleich ein eigener physiognomischer "Charakter" an. In der rein räumlichen Bestimmtheit prägt sich eine eigentümliche "Stimmung" aus: Das Auf und Ab der Linien im Raume fasst eine innere Bewegtheit, ein dynamisches Anschwellen und Abschwellen, ein seelisches Sein und seelisches Leben in sich. Und hierbei fühlen wir nicht nur unsere eigenen inneren Zustände in subjekt-willkürlicher Weise in die räumliche Form hinein: Sondern sie selbst gibt sich uns als beseelte Ganzheit, als selbständige Lebensäusserung. Ihr stetes und ruhiges Dahingleiten oder ihr unvermitteltes Abbrechen, ihre Rundung und Geschlossenheit oder ihre Sprunghaftigkeit, ihre Härte oder Weichheit: das alles tritt an ihr selbst, als Bestimmung ihres eigenen Seins, ihrer objektiven "Natur", heraus.

Aber all dies tritt nun alsbald zurück und erscheint wie vernichtet und ausgelöscht, sobald wir den Linienzug in einem anderen "Sinne" nehmen - sobald wir ihn als mathematisches Gebilde,als geometrische Figur verstehen. Er wird nunmehr zum blossen Schema, zum Darstellungsmittel für eine allgemeine geometrische Gesetzlichkeit. Was nicht der Darstellung dieser Gesetzlichkeit dient, was bloss als individuelles Moment in ihm mitgegeben ist, das sinkt jetzt mit einem Schlage zur völligen Bedeutungslosigkeit herab - es ist wie aus dem geistigen Blickfeld geschwunden.

 

Nicht nur die Farben und Helligkeitswerte, sondern auch die absoluten Grössen, die in der Zeichnung auftreten, werden von dieser Vernichtung betroffen: Sie sind für den Linienzug als geometrisches Gebilde schlechthin irrelevant. Seine geometrische Bedeutung hängt nicht von diesen Grössen als solchen, sondern nur von ihren Beziehungen, von ihren Relationen und Proportionen ab. Wo uns zuvor das Auf und Ab einer Wellenlinie und in ihr das Gleichmass einer inneren Stimmung entgegentrat - da erblicken wir jetzt die graphische Darstellung für eine trigonometrische Funktion, da haben wir eine Kurve vor uns, deren gesamter Gehalt für uns zuletzt in ihrer analytischen Formel aufgeht. Die räumliche Gestalt ist nichts anderes mehr als das Paradigma für diese Formel; sie ist nur noch die Hülle, in die sich ein an sich unanschaulicher mathematischer Gedanke kleidet. (...)

Und wieder in einem völlig anderen Gesichtskreis stehen wir, wenn wir den Linienzug als mythisches Wahrzeichen oder wenn wir ihn etwa als ästhetisches Ornament nehmen. (...)

Es gibt keine bewusste Wahrnehmung, die blosses "Datum", die ein lediglich Gegebenes und in dieser Gegebenheit Abzuspiegelndes wäre; sondern jede Wahrnehmung schliesst einen bestimmten "Richtungscharakter" in sich, mittels dessen sie über ihr Hier und Jetzt hinausweist."

(Ernst Cassirer: Die Philosophie der symbolischen Formen, 3. Teil, Hamburg 2010, 228 ff)

 
 
 
 

Cassirer über "ideale Elemente" in der Mathematik
     
 
ellipse   parabel   hyperbel
 

Ein Gedankenexperiment:
Stellen wir uns zweidimensionale Wesen vor, die nachdenken, philosophieren, Mathematik betreiben. Kurven wie die links gezeichneten sind diesen Wesen zugänglich. Sie werden diese Kurven zunächst als voneinander ziemlich verschieden betrachten: drei Kurvenarten, die nichts miteinander zu tun haben.

Nun entwickeln einige dieser zweidimensionalen Wesen die "Idee", eine dritte - für diese Wesen allerdings völlig unanschauliche - Dimension einzuführen, und zwar denken sie sich einen dreidimensionalen, "imaginären" Doppelkegel aus, der von einer Ebene im dreidimensionalen Raum durchschnitten wird (Abb. links unten). Als Schnittfiguren entstehen nun Ellipsen, Parabeln und Hyperbeln.

Für die meisten der zweidimensionalen Wesen sind solche Spielereien in höheren Dimensionen nicht oder nur sehr schwer verständlich. Der "dreidimensionale Doppelkegel" ist für sie unvorstellbar, ein völlig "imaginäres" oder "ideales" Gebilde. Trotzdem vermag dieses "ideale Element" die drei vorher zusammenhangslosen Kurvenfamilien in einer neuen "Idee" zusammenzubringen, in dieser Idee zu zentrieren. Plötzlich erscheint eine Verwandtschaft zwischen vorher Isoliertem. Trotz grosser Abstraktheit taucht das Gefühl eines "tieferen Verständnisses" auf.

 
  Drei Kurvenfamilien (Ellipse, Parabel, Hyperbel) ...  

 

 
 
kegelschnitte
 

Zum Thema "ideale Elemente in der Mathematik" ein paar Zitate aus Cassirer: Philosophie der symbolischen Formen, Bd. 3, Meiner, 2010, 452 ff:

"Jeder Schritt, der das Gebiet der Mathematik, der den Kreis ihrer Gegenstände erweitert hat, ist immer zugleich ein Schritt auf dem Wege zu ihrer tieferen prinzipiellen Begründung, zur Tieferlegung ihrer Fundamente gewesen. (...) (Die) Aufgabe besteht jetzt (...) nicht mehr darin, die neuen Elemente auf die alten zurückzuführen und sie aus diesen zu "erklären" - sondern sie geht vielmehr dahin, das Neue als gedankliche Vermittlung zu benutzen, kraft derer die eigentliche Bedeutung des Alten erst wahrhaft erfasst, (...), in einer zuvor nicht erreichten Allgemeinheit und Tiefe seines Wesens erkannt werden kann. (...) Hier bewährte sich innerhalb der Mathematik das Goethische Wort, dass jeder neue Gegenstand, richtig betrachtet, zugleich ein neues Organ des Sehens in uns aufschliesst."

ebenda 359:

"(D)er Allgemeinbegriff des Kegelschnitts (wird) nicht dadurch gewonnen, dass Bilder der individuellen Kreise, Ellipsen, Parabeln und Hyperbeln ineinanderfliessen und sich zu einem verschwommenen Gesamtbild vereinen - sondern dadurch, dass Kreis und Ellipse, Hyperbel und Parabel als durchaus bestimmte und determinierte geometrische Formen festgehalten, zugleich aber in einen neuen Beziehungszusammenhang gerückt werden: dass sie alle die Richtung und die charakteristische "Sicht" auf den geraden Kegel hin erhalten, an dem sie sich als Resultate der verschiedenen Schnitte, die sich durch ihn hindurchführen lasssen, ergeben können. Und das gleiche gilt dem Prinzip nach auch von den einfachsten Fällen "anschaulicher Begriffe". (...) In ihnen wird Getrenntes "zusammengesehen" - nicht in der Art, dass seine Bestandstücke miteinander vermengt werden, sondern dass sein Zusammenhang mit Rücksicht auf irgendein verknüpfendes Moment festgehalten wird."

 
  ... zentriert in einer neuen "Idee": der Idee des Kegelschnitts.      

 
 
  Bemerkung zu diesem Beispiel Cassirers:

Der Aufbau von Erkenntnis (im Sinne eines Konzepts) geschieht im Lichte dieses Beispiels nicht so, dass einfach unveränderbare Bausteine aufeinandergesetzt werden. Neue Erkenntnisse, die aufbauend auf alten "Bausteinen" gewonnen wurden, lassen rückblickend diese alten Bausteine in einer allenfalls veränderten, neuen Bedeutung erscheinen (nach der Zentrierung der Begriffe von Ellipse, Parabel und Hyperbel in der Idee des Kegelschnittes sind diese Begriffe nicht mehr dieselben wie vorher; das ganze Erkenntnisnetz hat sich verändert und damit auch die Bedeutung der alten Begriffe).
 

Diese Bedeutungsverschiebungen sind jedoch nie so radikal, dass sie das Gebäude zum Einsturz brächten; die Verpflichtung auf ein bestimmtes methodisches Vorgehen verhindert dies. Wir haben gewissermassen zwei gegensätzliche Elemente in der Entwicklung von Wissenskonzepten:
-Neues Wissen kann die alten Bausteine "umzentrieren", ihnen neue Bedeutungsaspekte geben. Das ganze System wird solcherart offen, unabgeschlossen. Ein "letztes Wissen" wird nie erreicht.
-Die Verpflichtung auf Regeln des Vorgehens bringt ein bewahrendes Element ins Wissensgebäude und verhindert den kompletten Einsturz. Die Bedeutungsveränderungen geschehen nie am ganzen Gebäude gleichzeitig.

Man vergleiche hierzu die Philosophie Ferdinand Gonseths (s. unten).

 
 
 
 
 

Die Linie - von "konkret" zu "formal-axiomatisch"

Von Plinius dem Älteren (23 - 79 n.Chr.) ist folgende Anekdote überliefert (zitiert nach folgender Quelle: http://www.hatjecantz.de/files/3775715525_06.pdf ) :

Vgl. auch http://www.hatjecantz.de/paul-klee-1512-0.html

 

In dieser Anekdote wird ein Stück Linien-Intuition beschrieben. Eine solche Intuition ist nach Ferdinand Gonseth (1890 - 1975) schematisch-summarische Kenntnis, vermittelnd zwischen "konkret" und "abstrakt" (Ferdinand Gonseth: Logique et philosophie mathématiques, Hermann, Paris, X, 1998).
Das konkrete Objekt ist materiell verwirklicht: eine gemalte Linie, ein gespannter Faden. Das abstrakte Objekt hat keine physische Realität. Es bestehen jedoch schematische Beziehungen zwischen dem konkreten und dem abstrakten Objekt.

Die mathematische "Gerade" wird seit Hilbert axiomatisch definiert. Dabei wird nicht explizit gesagt, was eine Gerade ist, sondern die Grundbegriffe Punkt, Gerade, usw. werden indirekt (implizit) in einem System von Axiomen definiert, d.h. über ihre Beziehungen zueinander: Axiome definieren die Dinge nur als System.
(Siehe z.B. http://de.wikipedia.org/wiki/Hilberts_Axiomensystem_der_euklidischen_Geometrie.)

Wie Ferdinand Gonseth und ebenso Paul Bernays betonen, gehen jedoch jeder abstrakten Axiomatisierung Intuitionen voraus, Vorstellungen von "Stilisierungen" physischer Gebilde, bei denen von gewissen Eigenschaften abstrahiert wird (Paul Bernays: Abhandlungen zur Philosophie der Mathematik, Wiss. Buchgesellschaft Darmstadt, 1976). Die formale Abstraktion knüpft an tatsächliche Vorstellungen an. Das Axiomensystem ist ein reiner Formalismus, jedoch werden beim formalen Arbeiten stets vorgängige Intuitionen und Vorstellungen wach gerufen; das Axiomensystem entstand nicht im inhaltsleeren Vorstellungsraum, sondern motiviert durch gewisse Intuitionen, die auch beim formalen Arbeiten noch "mitschwingen".

Die Anekdote von der immer schmaler werdenden gemalten Linie ist eine Etappe auf dem Weg einer Formalisierung - ein erzählerischer Übergang zwischen physischem Objekt und axiomatisch-formalen Begriffen.

 
 
 
 
 

Ein Gleichnis von Francis Bacon
Francis Bacon

ameise        spinne
http://www.magazin.uni-mainz.de/1191_DEU_HTML.php      http://de.wikipedia.org/wiki/Spinnennetz

Nach Poincaré, Gonseth und anderen dürfte diese Metapher auch auf die Mathematik zutreffen. Wir benötigen Alltags-Intuitionen. Diese verfeinern und formalisieren wir. Das entstehende System ist jedoch kein luftleeres formales Gebilde, sondern verdankt seine Entstehung unseren Intuitionen und Alltagserfahrungen und gleicht in diesem Sinn dem Werk der Bienen (natürlich mit dem entscheidenden Unterschied, dass die Bienen ihr Werk unbewusst verrichten, wir jedoch eine bewusste Gestaltungsfreiheit besitzen).

  "Die Empiriker gleichen den Ameisen; sie sammeln und verbrauchen nur. Die Dogmatiker, die die Vernunft überbetonen, gleichen den Spinnen; sie schaffen die Netze aus sich selbst. Das Verfahren der Biene aber liegt in der Mitte; sie zieht den Saft aus den Blüten der Gärten und Felder, behandelt und verdaut ihn aber aus eigener Kraft."

(Zitiert nach Wolfgang Krohn: Francis Bacon, Beck, 2006, p.117)


bienenwabe
http://de.wikipedia.org/wiki/Bienenwabe